
Hesh on Ute Cohens neuestem Werk Glamour
Eine Kundin hängt das Cape wieder zurück auf den Ständer und murmelt: “Wann und wozu soll ich diese Jacke denn tragen?”
Von mir aus könnte die Dame das Teil auch für eine Latzhose halten. Es ist und bleibt ein kurzes Cape. Aus feinsten Damast-, Feincord- oder Samt-Stoffen gefertigt, verfügt es nur über zwei kleine Knöpfe, jeweils zur Linken und zur Rechten des Dekolleté.
Ich murmele: “Zugegeben, dieses, äh…, Kleidungsstück, ist das Gegenteil von praktisch. Man könnte sogar sagen, es ist vollkommen sinnlos. Andererseits ist es immerhin wunderschön. Weswegen Sie nochmal eine Größe kleiner probieren sollten…”
Ich arbeite in einem Bekleidungsgeschäft. Abgesehen von Petitessen, sage ich den Frauen, was ich denke. Das kommt in der Regel gut an – die Ladies haben ein Näschen dafür, wenn der nächste Kerl mit der nächsten Lüge daherkommt und ihnen sich selbst oder etwas anderes verkaufen will.
Die gute, alte, klassische Beratung ist ein spannendes Feld. Die Frauen, alle Frauen, sind hochkomplexe Kunstwerke; sie sind die Haute Couture unter den Menschenkindern. Nehmen Sie nur mal besagtes Dekolleté: Wie weit darf der Ausschnitt sein? (Sind gar erste kleine Fältchen am Schwanenhälschen zu sehen, welche es unbedingt zu bedecken gilt?) Oder der Oberarmbereich, zu dem jede einzelne Dame ihre ganz eigene Meinung hat, in den meisten Fällen eine äußerst kritische! Weiter geht’s, ebenso selbstverständlich wie – Gottlob! – unvermeidlich: Zum Po, dem Po und nochmals dem Po!
Keiner gleicht dem anderen. No, Sir.
Weil wir gerade in der Gegend sind…, ein und dieselbe Rocklänge kann die Beine einer Lady, vor allem in jenen ganz speziellen Bereichen sowohl über als auch unter dem Knie, regelrecht absägen oder aber, perfekt zur Geltung bringen. Nicht zu vergessen der Teint: Ein Kleid, dessen kräftige Farben die Eine erstrahlen lässt, lässt eine Andere in kränklicher Blässe versinken. Was hier sexy blinkt, kann da billig und aufgesetzt wirken.
Apropos billig und aufgesetzt: Die Sprache. Die Macht der Worte. Dass ich persönlich stämmige Ladies ebenso ansprechend finde, wie alle anderen Frauen – interessiert diverse Vollweiber einen Scheiß! Die Wörter stämmig oder gar propper, sind absolute No- Gos! Wie sehr es auch als Kompliment gemeint sein mag – die Damen hören: “Ich bin fett. Der Typ findet mich also fett! Ich bin … ich fühle mich fett! Was für ein taktloses Arschloch! Hier gehe ich nie, nie, nie wieder hin…!”
Das Zauberwort ist weiblich. Und gut.
All dies zwischen Kundin und Verkäufer zu thematisieren, ist heutzutage unüblich – weswegen das erfolgreiche Resultat einer ebenso sachbezogenen, ergebnisoffenen und bittschön empathischen Interaktion, die Frauen ein wenig glücklicher und unsere Fußgängerzonen partiell ein bisschen schöner machen kann.
Nun liegt es nahe anzunehmen, dass Stil, ein gutes Körpergefühl und die perfekte Kleiderwahl darin münden sollten, dass eine Person eine gewisse Klasse entwickelt. Und wenn jemand erst einmal Klasse hat, ist da nicht vielleicht auch die erste Stufe in Richtung Glamour erklommen?
Surprise, surprise: Trotz chronischen Geldmangels verfüge ich zufällig selbst über Klasse. Vom Aussehen her rangiere ich eher so unter medium ugly, wie tik tok-affine Dater-Innen raunen würden, aber was mein Gesamterscheinungsbild angeht, bin ich einer der bestangezogensten Männer, sagen wir mal, weltweit 😉
Aber Glamour?
In welchem Zusammenhang ist mir das Wort und dessen Bedeutung, oder gar eine seiner leibhaftigen Vertreterinnen, bisher überhaupt untergekommen?
Well …, wenn eine fremde Schöne mit ihren riesigen grün-glänzenden Scheinwerfern den Sichelmond über einer meiner einsamen Nächte fixiert und ihr lasziver Gang aus der Entfernung meine Hosenbeine ansengt, während ihre vor Herablassung knisternde Insolenz meine Augäpfel in glutheiße Backpflaumen verwandelt und ich beginne mich nach ihr zu verzehren, wie nach sonst nichts auf der Welt, dann neige ich gelegentlich dazu, diesem Wesen Glamourösität zu unterstellen.
Selbstredend imaginiere ich im Nachgang noch mindestens die Hälfte hinzu, entrüste mich, plustere mich auf, bis auf mindestens 1,77m… über die so unvergleichlich herausfordernde Grausamkeit, so dermaßen militant ignoriert zu werden!
Obwohl Madame doch lediglich keinerlei Notiz von mir genommen hat.
Vielleicht, aber nur vielleicht…, trägt mein kleinliches Bild vom glamourösen Vamp vs. Loser, ja tatsächlich einen Funken Wahrheit in sich. Und zwar – weil dieses fremde weibliche Wesen für mich absolut unerreichbar bleiben wird. Dito jede Form von Glamour.
Meine Welt ist frei von Glamour.
Sämtliche weiteren Assoziationen zum Thema gesellen sich aus der Peripherie hinzu, sprich, aus Filmen und Fieberträumen, in denen ich irgendwo in den Katakomben längst verfallener Kastelle nach meinen Wurzeln, wahlweise, meinem Selbstwertgefühl grabe, mich in Musik verliere und natürlich in der Vergangenheit, in welcher meine Romane im Kopf manchmal eben auch ein wenig Goldstaub, ein wenig Glamour auf mich herabrieseln lassen.
Tatsächlich habe ich keine Ahnung. Außer, dass ich es liebe, Dinge zu vermissen, die ich nie erlebt habe und mich nach Menschen sehne, die mir nie begegnet sind.
Im Gegensatz zu den erwähnten Fieberträumen kann ich meine Tagträume selbst gestalten: Da ist dann nix mit alten Kastellen oder gar frischen Ambitionen. Stattdessen sitze ich zusammen mit Fran und Estrella Damm im Außenbereich von Terminal One des El Prat zu Barca. Wir haben den Sommer von Blanes in den Knochen und noch vier Stunden Zeit, bis unser Flieger Richtung Jerez geht. Gegen Mitternacht werden wir in unserer Butze am Strand von Cadiz ankommen – und erstmal dableiben. Am nächsten Morgen diskutieren wir den Transport ihrer drei Industrienähmaschinen, Franny will unbedingt selbst fahren …
Das ist alles, wonach ich mich sehne.
Nun habe ich den purpur schimmernden – wir wollen es mal nicht übertreiben – ich meine natürlich, den schillernden, im abgedunkelten Horizont diverser intellektueller Einzeller und Volontariats-Amöben für ein glitzernd-raschelndes Feuerwerk aus bunten Nadelstichen, ach was, aus pinkfarbenen, mit Goldglitter bespränkelten Giftpfeilen sorgenden Essay von Ute Cohen gelesen.
Und, erwartungsgemäß, rein gar nichts verstanden.
Dafür habe ich jedes einzelne Wort gefühlt, wie mein Sohn Fred sagen würde. Ich habe mich über den Begriff der Sneaker-isierung von Berlin-Mitte amüsiert, einer Gegend, mit den am schlechtesten teuer gekleideten Menschen, deren Anblick zu verstoffwechseln ich mich je gezwungen sah. Zumindest, wenn man vom Besuch einer Show des Cirque du Soleil im Bellagio in Vegas absieht, wo man auf Steve Bannon-Typen mit Fußballfan-Wampen trifft, die da in kurzen Chinos und ausgebleichten Polos für zusammen so an die 1000 Bucks rumstehen – und sich jemanden, der sich selbst für glamourös hält, allerhöchstens auf höchst unappetitliche Weise kaufen könnten.
Für ein Stündchen, oder so.
Was hängen geblieben ist, abgesehen vom Vergnügen an Frau Cohens dichten sprachlichen Collagen – welche zu den Besten gehören, die ich von deutschsprachigen Schriftstellern in den letzten Jahren gelesen habe: Glamour scheint so etwas wie Punk Rock zu sein! Nur viel, viel älter – und nicht erst nach Dienstschluss in der Sparkassenfiliale. 24/7! Pure Anarchie! Wahre, absolute Freiheit! Das vielleicht letzte Aufbäumen dessen, wofür es sich lohnen würde, unglücklich verliebt zu sein oder zu früh abtreten zu müssen.
Ups.
Durchaus vorstellbar, dass dies von an die acht Milliarden Menschen auf Erden als ultimative Provokation angesehen werden kann. Und, laut Frau Cohen, von einer nicht unerheblichen Anzahl an Spaßbremsen auch wird. Weswegen sich das Phänomen des Glamour im Allgemeinen und dessen weibliche Vertreterinnen im besonderen erheblicher Kritik ausgesetzt sehen, offenbar durchaus auch mal aus… Berlin-Mitte! (Was sich, befürchte ich, so anfühlen muss, wie von verwelkten, antisemitischen MILFS zur Antisemitin gelabelt zu werden. Andererseits wissen die dann wenigstens einmal, wovon sie reden, während sie danebenliegen.)
Touché.
Das glamouröse Wesen seinerseits scheint so gar nicht auf der Suche nach sich selbst zu sein. Es hat sich längst gefunden und lässt lieber andere nach sich suchen. (Während der Lektüre von Glamour, in der Nahkampf-Zone der Dresdner Straßenbahnlinie No.7, fühlte ich mich gelegentlich an die – unter anderem von James Jones und Norman Mailer beschriebene – Anmut des Kriegers im Kampf erinnert. Und sei es auch nur, weil dieser das exakte Gegenteil darstellt.)
Denn das glamouröse Selbst-Verständnis hängt an nichts wirklich. Nicht einmal am Leben. Für das irdische Kasperle-Theater, für uns Aufziehmännel, in unseren Strampelanzügen und Business-Kostümchen, hat es noch nicht einmal Verachtung übrig!
Ruhig, Brauner.
Freizeit-Agitatoren mit Schaum vor dem Mund sind ja nun so gar nicht sexy. Geschweige denn, auch nur im Ansatz glamour-kompatibel. Damit bin ich allerdings nicht allein. Der/die/das GLAMOURÖSE inszeniert sich zwar ohne jeden Bezug zur Tagespolitik, aber dafür auf Teufel komm raus! Und das dermaßen lustvoll, dass jede lustlose Ideologin komplett alt aussieht.
Und ihrerseits Gift und Galle spuckt.
Aber auch für Wohlmeinende ist der wandelnde und, wie erwähnt, ganz besonders der graziös auf zwei endlos langen Beinen dahin wandelnde Glamour – uffz -, eine absolute Herausforderung. Sprich, ein erbarmungsloser Lackmustest, wie ein jeder von uns es denn tatsächlich hält, mit dem so verdammt einfach dahin gesagten, Leben und Leben lassen. Will sagen – das Interesse an identitätsstiftenden Illusionen wie Fairness und Chancengleichheit, ist in glamourösen Universen offenbar gleich null. Bildung, Vermögen und Weltgewandtheit müssen nicht allein vorhanden, nein, sie sollten bitteschön uralt sein.
Das glamouröse Momentum muss sich in nichts beweisen, seine pure Existenz ist Beweis an sich. Im Gegensatz dazu haftet allem, was Normalsterbliche mit viel Fleiß und Hingabe erreichen können, der Makel des Erarbeiteten, des Bemühten an. Damit sind sie allesamt raus aus dem Rennen. Ich selbst bin ein Arbeiterkind. Auch das bleibt man lebenslang – trotz Hütchen hier und Jackett-chen da.
Game over.
Wenn Sie also, ja Sie persönlich, mit meinem Interpretations-Mäandere nichts zu tun haben, aber dafür wissen wollen, ob es vom Anbeginn der Zeit einige wenige, wahrhaft außerirdisch-Unabhängige gibt auf Erden, was die so treiben und wie man sie erkennen kann – dann lesen Sie Glamour von Ute Cohen.
Ich bin sicher, Sie amüsieren sich köstlich!
Auch wenn besagte Lektüre letztendlich wohl ebenso sinnfrei ist, wie das eingangs erwähnte, wunderschöne, aber nutzlose Cape. Denn wirklich verstehen dürfte Frau Cohens glamourösen Essay wohl nur ein tatsächlich glamouröses Wesen. Nur würde es den Teufel tun, das Geheimnis zu lüften…
Heiko Hesh Schramm
Oktober 2025