CC-Richard Leo Centner-Contributetd by courtesy of Teri & Fluffy Hays CentnerC-SA

CC-Richard Leo Centner-Contributetd by courtesy of Teri & Fluffy Hays Centner-NC-SA

HESH rezensiert Ein plötzlicher Todesfall von J.K. Rowling.

 

Es gibt Menschen auf der Welt, die sich einen Namen gemacht haben. Einen Namen, den die Leute kennen.

Von bestimmten Ereignissen haben alle etwas gehört. Wie Zigarettenrauch, schwebend durch den Sprachgebrauch. Losgelöst von Inhalt und Thematik, oder der Werbestrategie, der sie entsprangen – einmal abgesehen von Geniestreichen der Marke Raider heißt jetzt Twix –  ähneln sie den rund hundert Gesten, auf die wir uns verständigt haben, ohne augenblicklich durchzudrehen. Begeisterung, Ablehnung oder gar Panik – ein Wort wird zum Begriff, wenn die Aufregung sich legt.

Karl Lagerfeld und Katrin Göring-Eckardt, Ebola oder der 11. September, Tony Blair – der Meister des etwas anderen, des WAR- Selfie,  oder Jens Weißflog, der einst sooo weit über all das Weiß flog. Nicht zu vergessen natürlich, Karl Lagerfeld, und immer und immer wieder Katrin Göring-Eckardt: Morgens, mittags und abends, im Deutschlandfunk oder wo auch immer – wer die Stille nicht ertragen kann, der wird ihr nicht entgehen.

Der Name einer gewissen britischen Bestsellerautorin war mir also durchaus ein Begriff. Aber ich werde bald 42, mein Sohn ist neun, irgendwo dazwischen verläuft wohl das ideale Alter für eine gute Zeit mit Harry

Vor einigen Wochen las ich zufällig ein Interview mit Miss Rowling im Spiegel. Das Foto der Autorin war dem Text mehr als ebenbürtig: Mich traf der taxierende Blick einer Frau, die viel gesehen hat und immer noch neugierig ist. Die cremefarbene Bluse, die Wahl des Farbtons ihrer Blondierung, ja, allein wie ihre Haare fielen, all das bewies dezenten und vor allem exquisiten Geschmack. Ein Kompliment, welches man Leuten mit Geld wie Heu erstaunlich selten machen kann. Mrs. Rowling parierte schlagfertig die zum Teil aggressiven Fragen, ihr Humor schien auf dem Fundament innerer Gelassenheit zu stehen. Fontänengleich rauschte Neid durch meine Blutbahn, jeder bleibt schließlich, wer er schon immer war.

Das neueste Werk, Ein plötzlicher Todesfall, war von der Kritik als Rowling’s erster Erwachsenen-Roman bezeichnet – und in Deutschland zum Teil äußerst kleinlich verrissen worden.

Da der Roman in einem kleinen Kaff, irgendwo in der englischen Provinz spielen sollte, las ich lieber erstmal einen Krimi über Tijuana. Natürlich bin ich immer bereit, ein schlechtes Buch über Mexiko aus der Hand zu legen, aber eines über England gelangt mir meist erst gar nicht vor die Linse.

Es ist Winter. Seit einem gefühlten Jahr. Auch – hasse ich Wolken. Wer brauch’ da England? Was soll’s, kluge Frauen für träge Männerhirne sind wie Schlagringe für die Kieferpartieen der Rassisten – manchmal das einzige, was hilft.

Meint, ich wagte den Trip auf die Insel.

Das Buch beginnt mit einem Paukenschlag, dem plötzlichen Tod des einzigen Sympathieträgers unter den erwachsenen Protagonisten, einem Mann mit dem Namen Barry Fairbrother. Sobald das geschafft ist, beginnen zirka 500 Seiten zähe Kost: Es wird schonungslos das Innenleben von ultrakonservativ, bürgerlichem Supergesindel skizziert, irgendwo in der englischen Pampa, in einem Nest namens Pageford.

Den Begriff “Supergesindel”, der zweifelsfrei miesestes Deutsch darstellt, gibt es bisher so nicht. Ich musste ihn extra für diese Rezension, zu Ehren des im Buch beschriebenen Ultra-Packs erfinden.

Darüber hinaus werden deutlich und schonungslos die Auswirkungen für eine Gemeinde beschrieben, die durch den plötzlichen Wegfall einer solchen Lichtgestalt entstehen. Stichwort: Ehrenamtliches Engagement eines Einzelnen, richtungsweisend für ganze Biographien eigentlich chancenloser Vorstadtkids.

Wenn der Tod eines einzigen Mannes die Verhältnisse, oder konkret, das Abstimmungsverhältnis in einem Stadtrat dermaßen verändern kann, dass die Entscheidungen plötzlich gegen anstatt für die lokale Drogenklinik oder das Siedlungsgebiet The Fields laufen, dann kann ja etwas nicht stimmen. Wir wissen es doch, ein Mann allein, der kann doch gar nichts bewirken, nicht wahr? Also, alles ganz schön weit hergeholt, Mrs. Rowling?

Tatsächlich geben die Schilderungen der knappen Mehrheitsverhältnisse in Pageford die heutige Verfassung der Landesparlamente in den sogenannten Demokratien dieser Welt realistischer wieder, als uns allen lieb sein kann. Abgeordnete werden aus dem Urlaub geholt, und von Frau Nahles und Herrn Kauder – sprich, von den Generalsekretären der großen Parteien – auf Linie gebracht. Vom ständigen, einander lähmenden Patt zwischen Demokraten und Republikanern in den schon seit geraumer Zeit kaum noch Vereinigten Staaten ganz zu schweigen.

49 to 51 % of America – ein Blick in die Zukunft des vereinigten Deutschlands.

Verwöhnt wie wir von Helden- und Erfolgsgeschichten nun mal sind, weil nur für jene, die es ans Licht schaffen sich die Geschichte die Mühe macht, von deren Existenz zu berichten, erleben wir schaudernd, wie sich das Rad der Möglichkeiten wieder zurückdrehen kann, wenn Menschen in die Schlagschatten ihrer Existenz zurückrutschen.

Beispiel Krystal Weedon. Weiblich, 16, nicht die hübscheste, auch nicht die allerhellste, dafür mit Wut im Bauch und Sehnsucht im Herzen. Über ihre häuslichen Verhältnisse wollen wir, d.h. die Army of Hesh, den Mantel des Stillschweigens ausbreiten, es wäre übel, dreckig und hundsgemein, sich an dieser Stelle über ein solch himmelschreihendes Ausmaß an Crap auszulassen. Die große Politik ist Fräulein Weedon natürlich komplett boogie, aber dass es den Ruderclub nicht mehr gibt weil Barry tot ist, das schlägt ihr kräftig auf den Magen!

Hätte sie sich am Ende vielleicht trotzdem hinter der Turnhalle von Fats – naja, dünn isser nich’ … – vögeln lassen? Sicher. Wäre es auch so ein äußerst langer Weg raus aus Pageford geworden? Auf jeden Fall. Aber das die kleine Ms. Weedon in einem Team aufgehen, an etwas glauben und für etwas kämpfen kann, hätte bei späteren Entscheidungen in ihrem Leben durchaus den kleinen, aber feinen Unterschied ausmachen können …

Zu jedem Auftritt einer neueingeführten Figur auf der Bühne – ich spreche hier von einem warhaft stattlichen Ensemble – liefert Mrs. Rowling ein klares, unverwechselbares, mit feinem Pinselstrich gewebtes Psychogramm mit, was es uns möglich macht, diese Person klar zu erkennen, sowie von anderen faschistoiden Knalltüten zu unterscheiden. Das läuft dann meistens darauf hinaus, dieses Wesen eine Spur anders zu verabscheuen oder zu bedauern, und sollte sich ein Nebensatz einmal um Barry drehen, diesen immer mehr zu vermissen.

Ich als Leser suchte irgendwann nur noch besessen nach wenigstens einem noch lebenden Sympathieträger, ob nun Frau, Mann, Kind, Hund oder Kirchturm von Pageford. Das nahm geradezu exzessive Ausmaße an,  meine Wut führte zur Verspannung in der Dunkelheit. Also sah und hörte ich nicht richtig hin. Es war wie bei einem Streit, zu dem dir die besten Argumente erst dann einfallen, wenn deine Lady längst schlummernd vor sich hinmaunzt, zufrieden mit sich und ihrem Sieg.

Andererseits, was ist so schlimm daran, dass ein Buch nachwirkt, und erst zeitverzögert ein wenig schlauer macht?

Manchmal dachte ich, diese Geschichte gleicht, was ihre Tragik angeht, denen in der Bibel. Diese haben oft etwas einsames an sich: Sie finden in der Erlebniswelt eines Menschen, immer hinter dessen Bergen, unter seinen 7 Zwergen statt. So sehr die Kids im Buch auch fleißig und zeitgemäß ihre Facebook-Accounts bemühen und die globalisierte Welt aus der Ferne glitzert, vor Ort liegt Pageford im Krieg. Krieg um Macht und Einfluss. So klein das Becken auch immer sein mag, es vibriert vor Gewalt – in Gedanken, Worten und Faustschlägen. Krieg zwischen arm und reich. Zwischen Kindern und ihren Eltern. Zwischen Schülern und ihren Lehrern. In Bezug auf den politischen Gegner. Unter den Kids selbst.

Die Liebe? Sie muss sich mit sehr wenig Raum begnügen, inmitten der fast allgegenwärtigen Auswüchse seelischer Grausamkeit. Die Lichtgestalt Barry Fairbrother, die ist ja gleich zu Anfang: Der plötzliche Todesfall.

Barry’s Todesursache, im medizinischen Sinne, ist von Anfang an bekannt, nach der Lektüre des Buches bekam ich eine gewisse Ahnung, was der psychosomatiche Auslöser dafür hätte sein können. In der Atmosphäre von Pagford, hätte ich mich z.b. für eine Lähmung des Sehnervs und eine seltene Form einer inneren Schrumpfung beider Trommelfelle entschieden …

Wie J.K.Rowling es schafft, diese krude Geschichte mit solcher Spannung zu erzählen, kann man wohl theoretisch entschlüsseln, am Ende bleibt es ein Geheimnis großer Literatur. Lev Grossman vom Time Magazine schrieb in seiner Buchbesprechung: „Es ist ein großer, ambitionierter, brillanter, profaner, lustiger, tief bewegender und bedeutender Roman des derzeitigen Englands, reich an literarischer Intelligenz und bar jeden Bullshits“

Genau.

Meisterlichkeit und Disziplin, sowie eine verstörende Dramaturgie: Hunderte von Seiten ein Retardieren, dass dir beinahe Schwimmflossen wachsen. Menschliches Klein-Klein, sich in Stillstand und Selbsthass suhlend, friss oder werde gefressen.

Und jetzt vergiss mal bitte ganz schnell die Kriegskunst eines Machiavelli, Kultur ist doch nix für den Mob – nee, nee, alles soll schön blind und taub vonstatten gehen. Herzerfrischend wühlen und wühlen wir – wofür haben wir denn schließlich die scharfen Beißerchen – immer tiefer hinein in den Dreck der eigenen Barmherzlosigkeit.

Zusammengefasst: Das Wesen des gemeinen Pageforders ist ebenso toxisch, wie der Fraß, den er die ganze Zeit über in sich hineinstopft.

Doch dann, auf einmal, überschlagen sich die Ereignisse: 2 Kinder sterben, es liest sich nahezu wie in die Seiten gequetscht, kein Platz mehr für Erklärungen: Dinge passieren!

So geht Leben: Gleichlauf. Unbeweglich. Unbelehrbar. In den eigenen gedachten Grenzen herumtigern war gestern, heute liegen wir nur noch da, wie müde Löwenherren in der Sonne. Und dann? Kracht’s plötzlich. Der Wärter bringt nur Krautsalat … /  Eine Frau verlässt dich, völlig unvermittelt … / Dein Sohn wollte noch ‘ne Stunde auf die Skateboardbahn, kommt nicht wieder, und landet samt seinem Vergewaltiger und Mörder in den Abendnachrichten …

Der Schmerz ist nicht auszuhalten, keine Ablenkung funktioniert mehr. Du findest keine Ruhe, mit den alten Gewohnheiten kommst du nicht durch, also änderst du etwas. Nun hast du die Kraft dazu.

So auch hier: Wir erleben wie die Stadt ihre Unschuld endgültig verliert, in einem unfassbaren, kollektive Akt unterlassener Hilfeleistung. Diverse Handlungsträger – darunter einige, von denen ich es am wenigsten erwartete – raffen sich auf, nicht einfach weiter zu leiden, oder nach Schuldigen zu suchen. Sie fangen an darüber nachzudenken, immer wieder aufgeschobene Entscheidungen vielleicht doch zu treffen.

Da ist sie auf einmal, die Hoffnung. Sieh an, mit Barry ist sie also nicht gestorben.

Und als wäre der Platz von der Tragödie am Fluss zu berichten nicht schon gering genug, endet der Roman mit einer Rückblende, einem Ruderwettbewerb unter dem noch lebenden Barry. Wir erleben Krystal im Team ihrer Mannschaft. Völlig anders agiert sie hier, als wir sie das ganze Buch über kennen: Kraftvoll, voller Hoffnung und Saft, holt Krystal mit ihren Mädchen von der Gesamtschule den Sieg gegen die höheren Töchter des Internats …

Das trifft ins Mark, und das vermag es, weil J.K. Rowling in einem wichtigen Punkt konsequent bleibt: Das Loch, welches Barry gerissen hat, wird niemals mit Rückblenden oder Schilderungen seine Person betreffend, ausgefüllt. Sein Familienleben, eventuelle  Widersprüchlichkeiten seines Charakters, all das, ist an diesem Punkt der Geschichte völlig unerheblich.

Vakanz. Tot. Ende. Nix mehr. Wir sehen was hängen bleibt, wenn die Lebenden allein agieren müssen. Klar, der Mann erscheint uns fast als Provokation, so überlebensgroß und angeblich unfehlbar, wie der gewesen sein soll. Pah! Da wir nicht mehr an ihn herankommen, lehnen wir uns reflexartig auf. ‘Der wird doch auch mal eine Taube aufgescheucht haben, oder etwa nicht?’

Aber das sind wir. So sind wir. Wir wollen ja nicht einmal hinnehmen, dass Menschen gelegentlich, völlig eindimensional, blanker Dreck sein können. Aber manchmal sind sie genau das.

Zum Schluss noch ein Gedanke zu den uralten britischen Seelen, welche uns Krauts immer ein Rätsel bleiben werden. Wer je versucht hat, den Einrastmechanismus eines noch in Great Britain hergestellten Russel Hobbs Toasters mit dem Tastsinn einer deutschen Hand zu erfühlen, der weiß, dass sich dieses “It’s different” nicht allein auf Kunst und Hochkultur beschränkt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die in ihrem Inselkönigreich selbst ganze Armeen von bierseeligen Hooligans, tonnenweise Junkfood sowie ein Städchen namens Pagford mit lauter Irren im Stadtrat haben … aber das, das gibts ja nur im Buch.

Soviel Witz in all der Tragik, ständig bitteres wie helles Auflachen, wechsel- gebadet mit Tellern voller riesiger Klöße im Hals, über so viel kranken Scheiß in Menschenhirnen, von der Rührung über die Beschreibung sich so unvergleichlich an sich selbst schindendenden jugendlichen Seelen ganz zu schweigen. Aufgrund dieser Tatsache, hier zum Schluss mein Einwand gegen die Klassifizierung des Romans als Erwachsenen-Roman. Für schlaue 16- bis 21-Jährige, die nicht mehr so unbedingt auf einen neuen Harry Potter warten, könnte das Buch eine Entdeckung sein.

Außerdem steht auf Seite 211 der wundervollste Satz, den Hesh je gelesen hat, denn nie hat jemand treffender damit zugleich den Moment seiner eigenen Geburt beschrieben:

“Es begann mit kaum mehr als einem Verlangen nach Nikotin und Schönheit.”

Heiko Hesh Schramm

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