“Er war alle.” Satans Spielfeld von Ute Cohen, ein Monster-Essay erschienen auf kult.ch

Wer mit 20 Wörtern sagt, was man auch mit 10 sagen kann, der ist auch zu anderen Schlechtigkeiten fähig.” (Giosué Carducci)

1

Kreide gefressen

Zu Anfang quäle ich mich von Satz zu Satz. Ich mag das Sujet nicht. Auch habe ich das Gefühl, da wäre nirgends Drive. Während des ersten Drittels denke ich, Frau Cohen hätte keinen Drive (oder wäre zu diversen Kürzungen gedrängt worden – besser ein Buch im Handel, als ein noch besseres auf der Festplatte).

Blödsinn. Die Sprache, jeder einzelne Satz ist staubtrocken, so reduziert, dass er mir wie eine Gräte im Hirn steckt. Seite um Seite kapiere ich: Frau Cohen lässt mich die Tristesse im Leben ihrer Protagonistin nicht allein in den Szenenbildern spüren – Sprache und Tempo werden ebenso konsequent herangezogen. Frau Cohen wirft in die Schlacht was sie hat, sie sorgt dafür, dass ich genau da bin, wo ich hingehöre: Dort, wo ihre tragische Heldin die ganze Zeit über leben muss. Ich werde gezwungen (mit-) zu leiden. Was verdammt nochmal härter ist als simples Mitleid. (Mitleid, längst der gebräuchlichste Vorname unter uns Externalisierungsmaden, bedeutet einen Scheiß.)

Ab der Mitte des Buches ändert sich wie von Zauberhand die Farbe der Sätze. Sie werden zu Flöhen, zu Parasiten, was weiß denn ich. Ich spüre, wie sie mich anspringen, muss am eigenen Leib erleben, dass sie gewisse Dinge treiben. Es ist ok. Alles was mich zwingt, nicht taub und blind zu grasen, zu grasen und immer weiter zu grasen bis die Schlachtbank naht, ist ok. Rede ich mir ein …

Irgendwann endlich die letzte Seite. Ich gehe raus und lese für drei Tage nicht mal ein verschissenes Straßenschild. Buchstaben, die zu Wörtern, zu Sätzen, zu Informationen werden, empfinde ich für’s Erste als unerträglich. Weil der Mensch hauptsächlich von allerlei debilen Angewohnheiten zusammengehalten wird, versuche ich es an Tag vier mit MDR Info:

Die Moderatorin schwafelt was von einem Gewaltverbrechen in Herne. Ein Teenager hat ein Problem mit seinem W-Lan Anschluss, was ihn aufregt, weswegen er sich abreagieren muss. Also ermordet er auf bestialische Weise zuerst einen Neunjährigen und weil er einmal dabei ist, metzelt er gleich noch einen Mittzwanziger dahin. Begründung: Das Leben wär Scheiße ohne 24/7 Flat auf voller Pulle. Dann wolle er lieber gleich für immer den Knast, da gäb’s wenigstens Fressen und Heizung für umsonst. Mord ist Arbeit, hört man aus IS-Kreisen immer wieder, wie der Knilch also schwer beschäftigt ist, mit Blut und Eingeweiden und all dem Kram, hat er wohl nicht mitbekommen, dass er im Falle des Neunjährigen ausgerechnet den Stiefsohn eines Vollmitglieds der Bandidos killt. In Anbetracht der Geschäftsfelder bzw. des Arbeitsumfeldes von Rockerbanden dürfte es mit der wohlverdienten Ruhe in der Zelle nicht allzu weit her sein…

Satans Spielfeld – Was immer Sie begehren.      

2

“Liebe gab es nicht umsonst.”

Marie ist elf, dann zwölf, am Ende schlägt’s Dreizehn. Sie lebt Mitte der Siebzigerjahren in Franken in einer katholischen Gemeinde. Dort ist nicht viel los. Die wilden Siebziger machen einen Bogen um die Gegend. Marie will, was alle hungrigen Kids wollen: Dass was los ist. Sie will Teil einer verschworenen Gemeinschaft sein: Gegen die verbitterten Eltern, die bleierne Schwere vor Ort, und überhaupt. Trotz ihres zarten Alters, riskiert Marie bereits den einen oder anderen Gedanken an die Liebe.

Die Sehnsucht nach Liebe kennt viele Wege. Abgesehen von der Sicherung des Atomwaffenpotenzials, ist die fehlende Resilienz bei Kindern – innerhalb von Familien, die diese Bezeichnung nicht verdienen – ein entscheidendes Thema. Was vor allem an der Halbwertzeit liegt, welche es locker mit der von Quecksilber aufnehmen kann.

Unfassbar viele Menschen fühlen sich nicht wahrgenommen. Konkret: Sie fühlen sich zu wenig gefragt, gehört, angefasst, gestreichelt. Die Sehnsucht nach einem aufreizend, eindeutigen Augenaufschlag gesellt sich alsbald hinzu, wofür auch sonst sind Liebesfilme da. Wann all dies beginnt liegt im Dunkeln des Mutterbauches, in einer heilen Welt kommen die jungen Mädchen naturgemäß eher drauf: Während sie dabei sind, sich schon mal ein bisschen umzusehen sowie die Wirkung von dem einen oder anderen knappen Ober- oder Unterteil zu testen, fasst sich einer von den großen Jungs irgendwann ein Herz und geht ran. Er schmiert ehrenvoll ab, oder erlebt den Himmel auf Erden, wenn sie ihm ein Yes hinhaucht.

Deshalb sind wir alle da.

Marie lernt zwei Schwestern kennen. Die sind hohl im Kopf, aber besser als nichts. Marie begegnet dem Papi der Gören, in ‘nem heißen Schlitten rauscht er in ihr Leben, er heißt Bauleitner und guckt sie komisch an. Der Herr Bauleitner nimmt sie wahr. Er scheint etwas in ihr zu sehen, etwas, das bisher überhaupt nicht zu existieren schien. Aber das tut es. Marie nimmt diverse Schwingungen wahr, auch wenn die noch keinen Namen tragen. Eines Tages, bald schon, wird sie fortgehen. Dorthin, wo die Songs herkommen, die sie liebt, wann immer ihre Ohrmuscheln einen von ihnen einfangen können.

Dies alles ist von Frau Cohen bemerkenswert schnell erzählt, und noch bedeutend schneller gehts zur Sache: Der Herr Bauleitner macht Marie ein Angebot. Eines, das sie nicht ablehnen kann, da sie weder umworben, geschweige denn um ihre Zustimmung gebeten wird. Er grabscht sie rüde an und genießt ihre an Lähmung grenzende Verwirrung. Immer wieder drollig so ein Rehkitz, wie es erstarrt, wenn Gefahr droht. Kurz darauf lockt er Marie zum nächsten Ort wo eine Tür ins Schloss fallen kann und entblößt die riesige, voll fette Überraschung. In Gestalt seines prallen Schwanzes rammt er ihr zuckendes, pulsierendes Leben in die knochentrockenen Eingeweide. Denn mit Spucke sparte der Herr Bauleitner, es musste schließlich schnell gehen. Dafür gibt’s von nun an allerlei praktische Tipps mit auf den Weg:

Komm, Marie! Lebe! Ich zeige dir die Welt! (Also stell dich nicht so dämlich an.) Werd ja nicht schwanger! (Wenn ja, nun gut, bin ich natürlich für dich da und kümmere mich, dass das wegkommt.) Apropos, halt schön die Schnauze! (Niemand wird dir glauben. Niemand will seinen Job verlieren – nur wegen dir!) Übrigens, fick ruhig auch mal einen meiner Bekannten, ich will das du was lernst. Solange ich einverstanden bin, ist es ok. (Außerdem mach ich ihm einen stolzen Preis für dich.) Apropos: Nicht, dass du was durcheinander bringst, jung und dumm wie du bist: Untersteh dich, es jemals mit einem dieser milchbärtigen Halbstarken zu treiben!

Bauleitner hat leichtes Spiel. Er ist älter, stärker und erfahren im Manipulieren ihm unterlegener Menschen. Und in seiner Welt, ist ihm so gut wie niemand überlegen: Als Bauunternehmer und feste Größe in der Lokalpolitik sitzt er am längeren Hebel; er hat diverse Jobs zu vergeben, nicht zuletzt Maries Vater profitiert davon. (Das willst du doch nicht alles kaputt machen, meine Kleene!? Schließlich ist dein Daddy nicht grade dick im Geschäft, oder irre ich mich da? Ach, und deinen Lebenshunger, dein blödes Staunen, das gewöhnen wir dir auch noch ab.) Nichts von all dem sagt der Herr Bauleitner so direkt, viel lieber stiert und grunzt er sich durch seine Zeit auf Erden. Allerdings muss er auch nicht wirklich viel erklären. Marie versteht auch so. Dafür versteht sie ansonsten gar nichts mehr …

Unsere Pechmarie hängt also an Bauleitners Leine und ich bin zirka auf Seite 80. Was soll jetzt noch kommen, außer weitere 100 Mal dieser Drecks-Bauleitner in einer mittlerweile Zwölfjährigen?

Tatsächlich war es bisher nicht mehr als das Intro. Nun beginnt das Buch.

3

Fahrstuhl zum Schafott in Technicolor

Einschub: Porno? Nee, plötzlich und unerklärlich: gewisse Hemmungen. Dann wenigstens Hollywood? Zur Ablenkung bewegte Bilder … No, Sir. Fliehen ist zwecklos – Satans Spielfeld von Ute Cohen ist wie geschaffen für einen rasanten Trip im Fahrstuhl zum Schafott – in Technicolor. Ich hoffe es wird ein Kino- und kein Fernsehfilm. Wir sind hier weder in Baltimore noch heißen Sie Soprano mit Nachnamen. Pluspunkt: Veronika Ferres sollte uns erspart bleiben, so unglaublich gut wie sie ist, für die Darstellung einer im Mittel Zwölfjährigen wird es wohl nicht mehr reichen.

 4

“Kein Gebet mehr, kein Gehör, kein Zuspruch, kein Vergessen.”

Wir wissen auch was. Wir haben davon gehört. Von Herrn Nabokov zum Beispiel, dass selbst ein erwachsener Mann bisweilen den Überblick verlieren kann. Wenn er, vollkommen unbeabsichtigt, in einem jungen Mädchen die Begierde zum Leben erweckt und diese potz Blitz zum Brandkraftverstärker ihrer scheinbaren, für sie sehr realen Frauwerdung wird. Worauf sie anfängt, quer zu schießen und alles im kompletten Chaos endet.

Gott, selbst vom Hardcore-Atheisten wird der Weißbart in den Wolken da mal angeheult – warum muss es nur immer so kompliziert sein mit den Mädels? Dass es auch einfach geht, hat unsere Jodie, die kleine Ms. Foster, doch bereits vor einer halben Ewigkeit bewiesen. Lange bevor die Lämmer schwiegen, wurde sie vollkommen zu Recht angeklagt! War schließlich selbst schuld, die geile Schlampe!

Auch auf Satans Spielfeld entwickeln sich die Dinge höchst unerfreulich. Zu keinem Zeitpunkt lässt mich Frau Cohen dahin wo Klarheit herrscht und die Welt noch in Ordnung ist – in Bauleitners Kopf. Es sei denn, Marie beschäftigt sich mit möglichen Erklärungen, dessen Fühlen(?), Denken(?) und Handeln(!) betreffend:

“Er fuhr zurück, getrieben von einer Ungeduld, die Marie unter die Haut kroch.”  

“Sah er denn nicht, wie sie langsam, aber unaufhaltsam, sich selbst entglitt?

“Glaubte er tatsächlich, er könnte sie mit seiner Abwesenheit strafen? Fahle Hoffnung, Verlogene Horizonte …”

Schade. Ich hätte gern mehr über Bauleitners innere Beweggründe erfahren. Vielleicht war ja auch sein Papa irgendwann einmal ein bisschen zu lieb zu ihm, als er klein war? So ließe sich alles auf- beziehungsweise weg erklären. Man könnte ein wenig … vielleicht sogar noch mehr Verständnis aufbringen und sähe sich nicht gezwungen, hier ohne Not einen ehrbaren Geschäftsmann … Naja. Aber ist doch wahr …!

Nein. Alles, das Reale, das Mögliche, das Ersehnte, selbst das, was niemals eintreffen wird, erleben wir aus weiblicher, aus Maries Perspektive. Es ist ganz allein ihre Vorstellung, in deren Verlauf die Angst- und Panikattacken jede einzelne Stunde für sich entscheiden werden – Marie hat das große Los gezogen, ihr winkt ein Rund-um-sorgenvoll-Paket: das Alptraum-Abo auf Lebenszeit.

Also, normal geht das ja so: Umso mehr der Mensch Scheiße fressen muss, umso mehr stumpft er im Allgemeinen ab, um es runterzukriegen. Pech für Marie, dass ihr das anscheinend nie jemand verklickert hat. Erbarmungslos sieht sie, was alle anderen vorziehen zu übersehen: “Küsse schmecken nach eingeweichten Brötchen.”/ “Gedanken kriechen wie Ameisen durch ihr Gehirn.”/ “Sein Geruch springt sie an wie ein wildes Tier.”

Maries Turbo-Einfühlungsvermögen wird selbst von ihrem Peiniger als abnormal empfunden, dessen Lieblingssatz spricht Bände, (zum Beispiel nach der nächsten Vergewaltigung, oder wenn er sie zwingt am Strand ein Schalentier herunterzuschlucken): “Mensch, Mädel, nun stell dich doch nicht so an!”

Fast könnte einem das Stück Scheiße leid tun.

Aus Marie wäre eines Tages eine verdammt gute Schriftstellerin geworden. Frau Cohen hätte Marie sein können. Also treffen sie sich in der Mitte. Marie, gezwungen im Schnelldurchlauf zu reifen, und eine Autorin die sich erinnern kann – stellvertretend für die Frauen, denen es nicht vergönnt war, ihre ganz persönliche Hölle auf Erden zu überleben. (Um sich anschließend durch Jahre des Abgesangs hindurch zu kämpfen, hinter denen eine Zukunft in Freiheit wenigstens eine – wenn auch noch so kleine – Option darstellen könnte …)

Und so rocken die beiden Ladies ihre Story aus einer Art Doppelperspektive: Frau Dr. Cohen steht Maries Augen, Ohren und Geschlechtsorganen schweigend bei, manchmal findet sie Worte für das Unsagbare. Marie scannt sich derweil durch die Kulissen im Irrenhaus ihres Lebens und schleppt uns erbarmungslos mit:

“Jimmy saß neben ihr, berührte mit klebrigen Fingern ihre Stirn…”

Meat Loaf, (war das nicht dieser Teig-gesichtige, übergewichtige Sänger? Ach, der war früher dünn?) Egal, der Mann weiß gar nicht, was er anrichtet:

‘Would you offer your throat to the wolf with the red roses?’

“Seiner Haut,” (ich zerre immer noch an dem armen Jimmy ‘rum) “entströmte ein süßlicher Geruch. Marie fragte sich ob er jetzt gleich zur Sache käme wie Bauleitner.”

Marie fühlt sich überlegen, zugleich zerreißt es sie, vor Angst, Unsicherheit und Selbstzweifel: Dann “fürchtet sie sich vor seiner Gleichgültigkeit, vor dem Verlust des Spiels, das sie so lebensnotwendig braucht.”

“Seine Zunge,” (hier erleben wir einen Versuch mit Michi), ”leckte wie ein Hündchen an ihrem Hals, versuchte auf ihre Lippen zu kriechen.”

Abgesehen von Michis Art ihren Schwanenhals abzuschlecken, fühlt es sich gut an in seiner Nähe. Ein zartes Pflänzli der Hoffnung ………………………? Nix is’! Nicht in dieser Geschichte. (Muss auch mal sein, sowas gibt es, denken Sie nur an den Syrienkrieg.) Dummerweise verhält Michi sich wie ein Gentleman. Er drängt Marie zu nichts. Was die natürlich nicht aushält:

“Sie ertrug die Sanftheit nicht, kniff sich in den Oberarm. Der Druckschmerz genügte ihr nicht. Sie grub die Nägel tief ins Fleisch, bis Blutströpfchen hellrot hervorquollen.”

Sie fragt sich: “War es Verliebtheit? Liebe? Verstanden sie das darunter, die anderen in der Schule? Plötzlich kam er ihr schwach vor, wenn er sich an sie schmiegte und ‘Ich liebe dich’ flüsterte. Wahrscheinlich war er das auch, ein verzogenes Muttersöhnchen, dem nichts abgeschlagen wurde.”

Von meiner alten Maxime, Wer ficken will, muss freundlich sein, bleibt in diesem Buch nicht ein einziger Lametta-Faden unzerfetzt. Marie kennt es nun mal anders:

“Außerdem war es doch normal was sie tat. Küssen, streicheln, dann der Penis. Männer erwarteten das. Marie wusste es. Bauleitner hatte es ihr beigebracht. Er war ein Mann.“

“Wolf, Jäger, Beute.” Bauleitner begleitet sie auf all ihren Wegen und gibt die Richtung vor: “Er war alle.”

Der ultimativ zu-Herzen-gehende Satz des ganzen Buches. Mir kommt der Titel von James Salters letztem Meisterwerk in den Sinn: Alles, was ist.

Alles, was wir noch erwarten können?

5

“This is my rifle. There are many like it, but this one is mine.”

In des Satans Spielfeld geht es am Rande, in der Mitte und gegen Ende, – eigentlich immer wenn die Protagonistin nicht gerade vergewaltigt wird -, um Problematiken die im großen, einst so fernen Westdeutschland irgendwann einmal Thema waren. Ich kann dazu nichts sagen. Ich hatte andere Probleme. Entweder saß ich in meinem Kokon ohne Schicksal, schwitzte im Stahlwerk, oder fuhr in Bautzen in den Knast ein. Dabei war ich lediglich losgezogen um ein bisschen Zug zu fahren. Gen Westen …

(Nee, schon gut. Meine Kumpels wollten ma’ am Bahnhof gucken. Wie ich also – wer bleibt schon gern allein zurück – nichtsahnend mitlief, gings – WUUUM! – gleich mal im Gefangenen-Transporter ab in die Lausitz, samt Zwischenstop inklusive Misshandlung in ‘ner Kaserne der Bereitschaftspolizei, als Erlebniseinlage.)

Hüben und Drüben. Kreisen, kreisen, umeinander kreisen. Dieselbe Sprache sprechen. Keinen Schimmer voneinander haben.

Aber so wie wir alle auf den Topp müssen, findet sich in Satans Spielfeld wiederum eine Gesellschaft beschrieben, welche mir durchaus vertraut vorkommt. Sie muss geradezu eine Zwillingsschwester der Heutigen sein.

Natürlich gibt es Unterschiede: Ich muss nicht in den Siebzigern in einem Dorf voller bigotter Unbarmherziger, sondern darf stattdessen im Jahre 2017 in der ranzigen sächsischen Landeshauptstadt, inmitten einer Schar bigotter Unbarmherziger leben.

(Von denen ich eine nicht unerhebliche Anzahl ins Herz geschlossen habe, wer will schon ständig von Politik reden, wenn man sich – so rein menschlich – mag, und es nun wirklich lohnendere Themen gibt:

“Jesus, ist das ‘ne heiße Trulla! Siehste wie die durch den Barraum stolziert? Meine Cindy, die war auch ein echt heißes Geschoss … leider isse zu so ‘nem reichen Spacko auf’s Land abgehauen …

“Was, echt jetz’?”

“Yeah …”)

Jedenfalls, darf ich vorerst noch die Hosen anbehalten. Letztendlich stehe ich am Ende des Buches aber trotzdem ohne Kleider da: Schließlich will kein Mensch im Westen heute an die eigene Verantwortung erinnert werden. An simple Zusammenhänge: Mein Reichtum, deine Armut. Unser Frieden, deren Krieg. Viele reden davon und zeigen mit dem Finger in alle Himmelsrichtungen. Ständig kommt Wind auf, der wieder abflaut. So oder so – im Allgemeinen, wird das Leben hierzulande als ziemlich schlimm empfunden.

 “Wie bitte? Der Kaufkraft-Index zeigt in den letzten Jahren konstant nach oben? Was geht uns das an? Jetzt wo diese ganzen Fremden unsere Frauen vergewaltigen, unsere Jobs, unsere Lebensart, ja, all das bedrohen, was wir auch so schon Scheiße …, äh, ich meine, was uns lieb und teuer ist?”

Braucht der Mensch klare, simple Vergleichsmöglichkeiten – ich sag mal, mindestens in Relation zur Hölle – um schätzen zu können, was er hat? Werden all die Kriegsgetauften aus dem letzten Jahrhundert deshalb minimum 1000 Jahre alt?

Apropos tausendjährige Ambitionen versus harte Wirklichkeit: Nach relativ kurzer Zeitspanne scheint auch der Kapitalismus bereits gehörig in die Jahre gekommen. Ganze Legionen verdienter Mitglieder unserer Gesellschaft fühlen sich an einem Punkt angekommen, wo sie selbst dann nicht mehr satt werden, wenn sie genug zu fressen haben. Das Ende des Westens? Nö, der neueste Trick: Man verabschiedet sich sang und klanglos vom Säkularen, und aktiviert die in unbarmherziger Barmherzigkeit* bereits seit Jahrtausenden erprobten Religionen, diese ach so bewährten Säulen eines jeden Imperiums, wenn es droht vor lauter Überdehnung allmählich den Überblick zu verlieren …

(*Mit der Barmherzigkeit hab ich’s heute. Gut, dafür gibts in Satans Spielfeld ja nirgends eine Spur davon.)

Der Roman Kaltblütig von Truman Capote, aus den späten Sechzigern, erzählt die Geschichte eines Verbrechens. Eine Familie wird ausgelöscht, die Schuld der Mörder wird (an)erkannt. Allerdings nicht ohne wenn und aber: Das Buch verweist schonungslos auf die Mitverantwortung einer kalten, jeglichen Einzelschicksalen gegenüber ignoranten Zivilgesellschaft, (zumindest immer dann, wenn’s kein Popcorn dazu gibt). Das Buch war eine Sensation – es begründete ein neues Genre, den Dokumentarroman.

Satans Spielfeld spielt Mitte der Siebziger. Schnee von Gestern? Aber nicht doch: Mit einiger Sicherheit gibt es auch im Deutschland von 2017 den einen oder anderen gestörten Traktorfahrer, der sich liebend gern ins Zeug legen würde, um das grindige Nest in dem er dahinvegetiert, zum Schauplatz von ein bisschen Spaß zusammen mit der Bäckerstochter zu machen. Kann er ja nichts für, dass die erst zehn ist …, andere Mädels gibts im Dorf doch gar nicht mehr!

Der Kerl sieht nicht durch, sonst würde er kapieren, dass es ein verdammtes Glück ist, dass die schlauen Mädels heutzutage nahezu geschlossen in die Städte abwandern. Wo sie stattdessen von einem koksenden Investmentbanker vergewaltigt, oder wenn sie Glück haben, nur von ihrem Boss sexuell belästigt werden.

Sie meinen, das ist eine böswillig zugespitzte Verklärung einer viel entspannteren Realität? Ihnen und ja, auch mir, wäre solch ein schreckliches Schicksal bisher erspart geblieben? Zum Einen stimmt das, glücklicherweise. Andererseits, wer ist schon jeder siebte Deutsche? Wenige. Lediglich jeder Siebte von uns, mit einschlägigen Erfahrungen. Laut einer neuen Studie, allein zum Thema Kindesmissbrauch …

Sie haben Recht; ich sollte schleunigst runterkommen … Ich tue ja gerade so, als gäbe es heutzutage genauso viel Sexismus, Rassismus und rohe Gewalt wie früher. Dabei gibt es Legionen von Leuten die sagen, dass früher alles besser war. Hm. Ja aber … was stimmt denn nun?

Ex-DDR’ler wie ich, kennen sich aus mit dem Bewusstsein, oder dem Fehlen desselben. Also muss ich zumindest eines anerkennen: Heutzutage haben wir Heiko Maas. Der versteht keinen Spaß. Ich auch nicht. Hm, der Heiko und der Heiko Maas, werden die jetzt Brüder oder was? Naja, sollte sich sein Ministerium zur Abwechslung mal nicht nur mit Käse befassen, sondern die bestehenden Gesetze konsequent anwenden, sowie endlich die Verjährungsfristen für Sexualstraftäter abschaffen, würde ich mich bereit erklären den Mann lediglich rein menschlich unsympathisch zu finden.

Apropos Sympathie: So wie in Kaltblütig zumindest einer der Killer, Perry Smith, etwas Kreatives, Schöpferisches, manchmal Liebenswertes an sich hatte, so ist der Herr Bauleitner – ein Mann der seine Töchter liebt, der für Fortschritt steht; ein Anpacker, ein über-den-Tellerrand-Blicker, quasi, ein Erbauer der Zukunft usw. – auf die ersten zwanzig Blicke nicht gerade das typische Vergewaltigermonster. Ein Mann, dem man den Teufel erst auf den einundzwanzigsten Blick ansieht. Aufgrund dessen der Durchschnitts-Honk seinen Nachwuchs nur schwer verspätet warnen kann …

“Guck ma. Böse, böse … “

“?”

“Dieter, der Junge sollte schon seit zwei Stunden von der Skateboardbahn zurück sein, jetzt tu doch endlich was!”

“Hmpf(.)”

So, wie wenn eine junge Frau heutzutage ihren BH-bra-ka-dabra ablegt, sieht die Wahrheit in Wahrheit jedoch oft ganz anders aus: Der Herr Bauleitner ist nichts anderes, als das klassische Dreckschwein. Schweine sind alles andere als dämlich; Kinderpornoringe, wie aktuell in Australien, werden von honorigen Großkopferten aus der Wirtschaft und/oder Politprominenz – samt ihren weißen, wie Fahnen im Wind flatternden Westen – nicht nur frequentiert und gedeckt, sondern auch betrieben. Ich bin nicht Maries Vater, also habe ich meinem Sohn einen simplen Rat gegeben:

“Wenn du belästigt wirst, sage laut und deutlich: Lassen Sie mich bitte in Ruhe!!!”

Nicht dass die drei Sahneschnitten samt Primark Tüten drei Meter weiter, oder der 90 Kilo Hoch- und Tiefbauarbeiter, der ihnen auf die auseinanderplatzenenden Nähte ihrer Leggings glotzt, denken, es handele sich um den lieben Opa plus renitentem Enkelsohn. Zusätzlich gab’s für meinen kleinen Mann noch ‘nen Marsriegel – er liebt Karamel… – und die Ansage, dass man einem Menschen den Anteil an Teufelsfleisch nicht unbedingt immer ansieht. Dass er vorhanden ist, davon könne er getrost ausgehen.

Wie sang David Sylvian samtig und weich: The banality of evil. Der Herr Bauleitner ist nichts besonderes. Marie schon. Nicht, dass es nicht vielleicht tausende namenlose Maries gibt, da draußen. Aber diese eine, macht sich verdammt schwer auf meinem Brustkorb – Facesitting, einmal ohne jeden Spaß daran.

Wie hieß es noch in Full Metal Jacket: “This is my rifle. There are many like it, but this one is mine.”

6

Bobby Kennedy versus LBJ.

We shall overcome?

Dass wir nicht alle von denselben Vorfahren abstammen, dürfte nach dem Genuss einer beliebigen Nachrichtensendung allen klar sein. Nicht zu reden von dem intensiven Sog, in den der verzückte Cocooner geraten kann, wenn es draußen stürmt und in der Glotze History Channel rockt und das bluttriefende, reißerische Schlachtengemetzel den Knabberimpuls anregt:

“Cindy, jetz’ kommt Landung in der Normandie! Bringste Bretzeln und’n neuet Sterni mit!? Wenn du schon zehnma in der Stunde aufs Klo rennst … Sach ma, hast du Blase oder was?!”

Andererseits, hat es ja nun nichts wirklich Ritterliches an sich, kleine Mädchen aufzubocken. Dürfte nicht ganz einfach sein, sich mit so etwas zu identifizieren …

Letzte Woche schrieb mir eine enge Freundin (auf die ich heimlich stehe, wie auf alle meine Freundinnen, schließlich sind es Frauen und daher in Friedenszeiten die erste Wahl) wie auch immer, jedenfalls schrieb mir die dunkelharrige Pantherina, sie hätte die Lektüre von Satans Spielfeld gleichermaßen als abscheulich wie sinnlich anregend empfunden. Was mich – wie selten – sprachlos zurückließ.

(Also … – Oh Lord, jetzt wirds zu intim – egal, wenn ich z.b. Pornos glotze, kommt nur bei Erika Lust auf, ich meine, ich komme nur zu Erika Lust Filmen, wenn’s hoch kommt, geh’ ich in Wien auch mal in die Oper, bedauerlicherweise tritt Frau Simonian aber gar nicht mehr öffentlich auf …)

Touché. Ich habe Sie soeben angelogen. Vorsätzlich. Geht gar nicht, so unter Freunden …

Frau Lust und Frau Simonian werden mit ihren feministischen, zum Teil durchaus wundervollen Filmchen Frau Schwarzers Meinung zur Pornoindustrie sicher nicht mehr ändern. Ihre PorNo-Kampagne von 1978 forderte ein absolutes Pornoverbot, mit der Begründung, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Pornokonsum und Vergewaltigungen gäbe. Obwohl ich das exakt umgekehrt sehe, dafür das beste lebende Beispiel bin, sowie – im Gegensatz zur Argumentation einiger Artikel in der Emma Mitte der Siebziger – auch dem Sex mit Schutzbefohlenen, siehe auch: diversen Findelkindern nichts abgewinnen kann, stehe ich natürlich auf viel kränkeren Scheiß.

Auf den 214 Seiten des Satans habe ich allerdings auf keiner einzigen so etwas wie Sinnlichkeit wahrgenommen, geschweige denn wäre nur in einem meiner unzähligen Schwellkörperchen, auch nur ein Quäntchen Lust aufgekommen. Bin ich also seelisch gesund, oder was? Sicher nicht. Ich stehe nur auf dem Standpunkt, dass, wenn zwei oder fünf Leute gemeinsam ein Schwein schlachten wollen um sich in dessen Blut zu suhlen, dann bitteschön, sollen sie doch! (Sich anschließend mit diversen militanten Tierschützern auseinanderzusetzen, müssten sie halt lediglich zum nächsten Thrill (v)erklären; in einer Welt in der dem Politikwissenschaftler Werner Patzelt das Auto angezündet wird, weil ein paar Spackos ihre Sicht der Dinge als die einzig wahre ansehen, könnte es unsere Blut-Fetischisten glatt das Leben kosten. Aber, mal ehrlich, was ist das Leben ohne ein bißchen Spaß – inklusive Risiko? Zumindest, solange sich alle einig sind …

Zum Lohn für den Versuch (m)einer Standortbestimmung stieß ich bei Amazon auf die Rezension einer Frau, die sich ob der “kalkuliert” eingesetzten Vergewaltigungs- und Sexszenen in Satans Spielfeld, “nicht darüber wundert, dass es so viele positive, männliche Kommentare gibt.”

Also, entweder ist diese Dame innerlich vollkommen degeneriert, oder ich bin etwas Besonderes. Ein sensibler Outlaw, voller Herz, trotz all meiner exorbitant zur Schau gestell(z)ten Wildheit. Sozusagen, “The Koala bear of the road!

AU JA!

OH, No …

Dieser Ich-gegen-alle/Alle-gegen-einen/Und-du-bist-fremd-(!)Sing Sang, wird wohl nie aufhören. Ob es nun die deutsche Sprache ist, der Gewalt angetan wird, mit diesem unsäglichen Gender-Blödsinn. Nicht zu reden von den Minoritäten, oder aktuell, wie in diesem Fall, dem anderen Geschlecht …

Whatever.

Hauptsache das Trennende betonen und moralische Überlegenheit demonstrieren. Wen schert schon ein kleiner Rufmord hier und da, oder ein bißchen Sippenhaft? Eine selbsterklärte Feministin (eine aus der Apollo 4 Generation) warf mir mal an den Kopf: “Stellt Euch nicht so an, Jungs! Jetzt sind wir dran!”

 Ist es also naiv davon auszugehen, dass es sich nicht unbedingt verkaufsfördernd auswirken muss, wenn die Allgemeinheit sich dermaßen ekelt, dass die Lust am Amusement ins Rutschen gerät? Siehe auch: Satans Spielfeld – Missbrauch satt – für schlappe 19,90? Müsste Edward St. Aubyn nicht auch so berühmt sein? Einfach, weil er unglaublich faszinierende Bücher schreibt?

Blödsinn. Wozu habe ich einen Wahlspruch, wenn mein Horizont hinter ihm zurückfällt?

Alles was Menschen tun, ist per se menschlich.

Angebot und Nachfrage-

Angesichts eines ganz besonderen Video-Highlights letzte Woche auf Facebook (Bauleitner hoch fünf – siehe auch: Massenvergewaltigung), konstatierte der Wiesbadener Kriminalpsychologe Rudolf Egg lapidar:

 “Menschen machen das, was möglich ist. Und was ihnen gefällt. Also zeigen sie auch eine Vergewaltigung im Livestream – selbst wenn sie damit ein extrem großes Risiko eingehen.”

 Mutig, mutig, Jungs. Mindestens vierzig Knilche haben sich das Video reingezogen, kein einziger hat die Bullen gerufen.

Das Blut pulsiert und wird es weiter tun. Es passiert und wird wieder passieren: Macht, Sex, Begierde, künftige Diktatoren prügeln sich längst durch die Kindergärten und eifern ihrem Vorbild im Präsidentenamt nach. Wer nichts zu tun hat, vögelt in der Gegend herum und produziert Nachwuchs – Und bist du nicht willig … Die Gülle matscht die Felder zu, irgendwie muss man die ja alle satt kriegen. Und das immer so weiter, bis zu einem Atomunfall in einem unterirdischen Raketensilo, oder, wenn wir Glück haben, bis die Sonne kälter wird. Aber das Glück winkt bekanntlich nur dem Tüchtigen, ergo – entweder bekommen wir endlich unser’n Arsch hoch oder verbleiben herzlichst, auf …

Satans Spielfeld – wo immer sie etwas besitzen wollen, was anderen gehört.

Ob Frau Cohen das Schicksal Truman Capotes in seiner Eigenschaft als Nestbeschmutzer wird teilen müssen, ist bisher nicht entschieden. Um sich diesen Status zu erarbeiten hat Mr. Capote mit Erhörte Gebete gehörig nachlegen müssen, seinem tragisch- sagenumwobenen Spätwerk, in dem nicht allein mehr nur auf das im allgemeinen Verrottete einer abstrakt im Dunkeln existierenden Gesellschaft verwiesen wird, sondern in welchem die Biester mit Klarnamen über der Nacht von Manhattan glänzen. So feminin Capote auch immer veranlagt war, Frauen gegenüber, erst Recht denjenigen unter ihnen, welche es noch nicht geschafft haben, liegt die Messlatte dreifach höher. Ute Cohen wird sich nicht herausreden können: Sie legt mit ihrem Romandebüt nichts weniger, als eine – aus weiblicher Sicht erzählte – Version von Kaltblütig vor. Und sie nennt die Dinge bereits in ihrem Erstlingswerk beim Namen.

Große Literatur ist immer nah am Puls der Zeit – jedes wichtige Buch ist heute fast zwangsläufig zugleich auch Kriminalroman. Wen schert es, dass die Verlage das, ohne sich für den inhaltlichen Aspekt zu interessieren, gleichwohl ausnutzen, um in Deutschland die Renaissance von Jim Thompson anzukurbeln, Donald Ray Pollock irgendwie unterzubringen, Don Wins(b)low am Laufen zu halten, oder auch nur ein einziges Buch von Charles Willeford, Joseph Wambaugh, – meinem persönlichen Helden Mr. Pete Dexter, oder aktuell von Nic Pizzolatto zu verkaufen?

Auch Satans Spielfeld ist in jeglicher Hinsicht, durch und durch kriminell. Wieder einmal ist es Essig, mit der gemütlichen Runde am Lagerfeuer …

Schmoll.

Stattdessen eine weitere Version der alten Geschichte über die Ignoranz der Menschen, das Wegsehen, das Geschehenlassen. Über ein Klima, in dem es unmöglich scheint, sich mitzuteilen. In dem sich niemand traut, um Hilfe zu bitten, siehe auch: Nur den Starken gehört der Westen. Wenn die dann noch was von der Demokratie labern, sind wir zurück bei Adam Smith und müssten es endlich kapieren. Aber auf der Straße kennen die meisten Leute nur den anderen Mr. Smith respektive den Herrn Mustermann …

Außerdem, wollen wir wirklich den total guten Diktator? Wie könnten wir uns je sicher sein …?

Lieber lauschen wir den Ausführungen von Herrn Chomsky beinahe ebenso verzückt, als handele es sich um die Fortsetzung von Roland Emmerichs 2012. Kleiner Schönheitsfehler: In nicht einer einzigen Arche wird auch nur ein einziger Platz für unsereiner frei sein.

7

Flieg, schwarze Schwänin, flieg!

In den sozialen Netzwerken (Wer hat eigentlich entschieden, dass die sich sozial nennen dürfen?) wimmelt es von allerlei Tastatur-Wilden, übergriffigen Neandertalern und anderen in irgendeiner Lehmschicht des Pleistozäns gehirnverprässten freien Bürgern unseres – leider immer noch – so generösen Landes. Im Grunde sind es wahre Demokraten (vielleicht ein bisschen zu ideologisch, dafür umso weniger empathisch), die eben nur nicht aus Herne kommen. Die schlagen niemandem aus lauter Wut den Schädel ein und nehmen das Risiko in Kauf, dass der Wixer auch noch die Frechheit besitzt zu sterben, nur um ihnen den Rest ihres Lebens zu ruinieren.

Wobei das Leben, also das echte, natürlich auch kein Zuckerschlecken ist. Aber man muss es positiv sehen. Wenn schon niemand etwas mit ihnen zu tun haben will, so haben sie doch wenigstens Zeit. Viel Zeit. Also lauern sie, während sie sich unter Pseudonym einen abschwitzen. Ungeduldig warten sie darauf aus ihren Löchern zu kriechen, sich etwas rauszusuchen, sich zu empören, scharr, scharr …

Endlich(!) – wieder den Stab brechen. So kurz er auch ist.

Nicht über den Vergewaltiger, über den Herrn Bauleitner, den wilden Höllenhund. Aber nicht doch! Nein, über Marie werden sie herziehen. Sie werden sagen: Wie kann sie nur? Sie ist ein Biest. Eine Hure. Sie ist alles andere als ein artiges, korrektes Opfer. Damit zieht sie die anderen Opfer in den Dreck! Wir und nur wir – und natürlich der Bauleitner – wissen, wie sich ein Opfer zu benehmen hat. Damit das mal klar ist: Selbst die – sogenannten – Opfer haben da nichts mitzureden! Die sind doch traumatisiert, denen sollte man keine Stimme geben. Die brauchen professionelle Hilfe, beziehungsweise, so kaputt wie sie sind, stellen sie längst selbst eine Gefahr für unsere HEIL(!)e Gemeinschaft dar! Nein, wir (er)kennen unsere Pappenheimer und diese Marie, die ist so, äh, sie ist so … so anders. Zum Teufel mit ihr!

Aber an Marie kommt die Meute der Dogmatiker nicht heran. Also werden sie sich an der Autorin abarbeiten. Schließlich “ist sie alle” in diesem Buch, ergo – für alles verantwortlich.

Frau Cohen und ihr erster Roman Satans Spielfeld werden die Zeiten überleben, in die sie unweigerlich geworfen werden. Dieses Buch ist der sprichwörtliche Wackerstein unter einer verdammt dünnen Matratze. Ebenso wie Baldrian oder Heilerde macht es nicht gerade Spaß. Aber es hilft. Zum Beispiel uns unwohl dabei zu fühlen, wenn wir das nächste Mal denken: It’s none of my business.

Das Besondere an diesem Buch, beruht auf einer seltenen wie simplen Tatsache: Die Cohen hat die Eier unterm Designerkleid, ehrlich zu berichten.

Das Gerede von Authentizität und Glaubwürdigkeit spiegelt sich – natürlich – immer im Auge des Betrachters. Da dieser im Allgeḿeinen blind ist für eine Wahrheit, die nicht die seine ist, macht Frau Cohen die Sache wasserdicht. Was meinen Horizont angeht, so lässt nichts in diesem Buch, kein einziger Satz, einen Spielraum für Interpretation. Es steht alles ganz klar da. Eine Charakterstudie, die (kalt)stellt, eine dicke Schicht Asche auf hellgrauem Hut: Das Kostbarste, die eigene Ehrlichkeit, lediglich als die nächste, die ultimative Lüge anzubieten – das läuft hier nicht.

Naiv, staunend, empathisch; raub-tierisch wie nur eine Frau sein kann, reißt Ute Cohen riesige Löcher in die Watte der Ignoranz. Zur Kenntnis nehmen – hinsehen, zuhören, handeln. Verdammt viel Luft nach oben. Damit die Opfer der Bauleitners dieser Welt eines Tages zum tragischen Einzelfall werden, für deren Schicksal die Menschen noch Tränen übrig haben.

Heiko “the army of HESH” Schramm

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