HESH über Das Größte auf Erden von Norman Mailer.

Wie kommt es, dass Hesh trotz freier Buchauswahl, lieber über eine alte Shortstory von Norman Mailer, aus dem Jahr 1940 reden will?

Frei wie Wolfo, saß ich im Imbissbereich des Mockritzer Freibads, welches deswegen Mocki heißt. Mein Sohn Al freute sich, dass er endlos lange im Wasser herumtoben konnte, um seine Lippen  noch dunkelblauer als sonst einzufärben. Daddy O war abgelenkt. Der hatte zwei neue Bücher sowie das erste eiskalte Bier vor sich – und das am Vormittag – seine Frau war ja, leider …, arbeiten.
Der. Das bin ich. Zumindest eines der beiden Bücher, so war ich mir sicher, wäre die perfekte Wahl, für eine Rezension für Studio B …

Meine wunderbare Frau – der es aufgrund von Abwesenheit im Moment nicht möglich war, meine gesunde Lebensweise und deren sichtbare Folgen glasklar zu analysieren – hatte mir eins der Bücher geschenkt. Unter ihren scheinbar mit anderen Dingen beschäftigten blauen Super-Scheinwerfern, war ich im Buchladen verdächtig lange darum herumgeschlichen, natürlich gänzlich frei von jeglichen Erwartungen …

Es  handelte sich um Homicide von David Simon, dem Schöpfer der HBO-Serie The Wire. Ein, zumindest bis zur Hälfte der 829 Seiten, leidlich lesbarer Bericht über den tagtäglichen Kampf einer Mordkommission, mit dem mörderischen Wahnsinn auf Baltimore’s Straßen.
Die Detectives tragen die Namen ihrer nationalen Ursprünge, wie z.B. Donald Worden, Tom Pellegrini, Terrence McLarney oder Oscar Requer – in Wahrheit sind sie allesamt längst waschechte Americans.

Eine Zeit lang dachte ich: Das besprichst du! Und erst die coolen Fotos …! Ich wollte die ungeschminkte Realität des beschriebenen Arbeitsalltags einer Mordkommission, sowie die Auswirkungen auf die Seelen von Männern beschreiben, welche tagtäglich mit einer der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen des Homo Sapiens Rezens zu tun haben, nämlich dem fantasie- sowie lustvollen Mord an anderen Vertetern derselben Spezies. Ich wollte kunstvoll auf eine meiner liebsten und zugleich gruseligsten Theorien über das Wesen des Menschen im Allgemeinen, und erst recht, im Besonderen abheben: Dass alles, was der Mensch tut, per se menschlich ist.

Ich verstand, dass Mr. Simon in seinem Drehbuchentwurf vieles immer und immer wieder wiederholen muss – diese Bezeichnung passt besser zu diesem retardierenden Schinken. Was soll’s, dachte ich milde, dies liegt nun einmal im Wesen einer Vorlage für eine Fernsehserie, welche mindestens ein halbes Dutzend Staffeln hergeben muß, sonst würde selbst HBO das nicht finanzieren. Dummerweise verlor ich jedoch auf Seite 535 das Interesse an dem Ganzen, immer noch in der Sache milde, aber trotzdem ab dafür …
Sohn Al überlebte seinen Rekordversuch im Dauerbaden etwas unterkühlt. Ich blieb ruhig und war mir weiterhin sicher, meine Besprechung ungeschrieben im Kasten zu haben:
Vor mir lag Joyland, das neue Buch von Stephen King.

Ein Wort an dieser Stelle zu Mr. King. He is the King. My Man. Wie Eastwood und Johnny Cash: Im Alter immer besser. Ich verliere schlagartig jede Sympathie selbst für langjährige Freunde plus -innen, welche sich borniert oder abfällig über Mr. King äußern. Besonders grimmig reagiere ich, wenn solche Leute ihr Urteil auf die Tatsache stützen, nicht ein einziges Buch von dem Mann gelesen zu haben.

“Das is dor Horror, oder sooh…?!”
“Klar, du mich auch!”

Einem menschlichen Wesen habe ich dieses schändliche Verhalten nachgesehen, aber sie ist eigentlich gar kein Mensch, sondern eine wunderschöne, mein Nervensystem eh seit mehreren Jahren dauerstrapazierende Frau …

Touché und zu Joyland: Bin ich in 2 Tagen durchgeschwebt. Getragen von einer warmen Sprache und der unglaublichen Empathie Kings, für das Innenleben junger Menschen. Diese Qualität teilt der Mann sonst höchstens noch mit Mrs. J.K. Rowling.

Der amerikanische Student Devin Jones hat Semesterferien und muss mit dem ersten großen Liebeskummer klarkommen. Also erstmal weg aus Maine. Er nimmt einen Ferienjob in dem Vergnügungspark JOYLAND, nahe Heaven’s Bay in North Carolina an, der seine besten Zeiten lange hinter sich hat …
In der Geisterbahn, wo auch sonst, verbirgt sich ein dunkles Geheimnis, ausgelöst durch ein dort vor langer Zeit verübtes Gewaltverbrechen. Die aus diesem Erzählstrang resultierende mystische Seite des Buches ist sehr sparsam erzählt, ich sage jetzt nicht: “Für Stephen King äußerst ungewöhnlich…!”, wer spielt schon hinterfotzig mit den Ressentiments anderer Leute. Das Hauptaugenmerk der Geschichte, die in Joyland erzählt wird, liegt jedoch im Reifeprozess eines Jungen heran zum Mann. Das ist berührend sanft und unspektakulär erzählt, es ist kein großes Buch, wie z.B. Der Anschlag – in jedem Fall war es meine Zeit wert.

‘Nu. Warum besprichst du’s dann nicht richtig, du Nuss?  Worin besteht eigentlich dein Hauptimpuls ein Buch vorzustellen, wenn du keine Vorgabe aus dem Team von Studio B hast?’
“Was willst du denn? Absolute Begeisterung natürlich! Komplettes Verknalltsein! Über beide Ohren. Reine, ungezügelte Geilheit. Ein Schlag in die Ursuppe! Oder meinetwegen, glühender Hass! Was bitte sonst?”

Wie mittlerweile vom Leser vergessen, hatte ich im Titel  Gedanken zu einer Kurzgeschichte von Norman Mailer angedroht … und auf die traf und trifft die Nummer mit dem Urknall-Abo sowas von zu. Es vergeht seit zirka 1988 kein halbes Jahr, in dem ich sie nicht mit heißem Herzen mindestens einmal einatme.
Sie heißt: Das Größte auf Erden
Geschrieben 1940, anlässlich eines schulischen Schreibwettberwerbs. Den hatte der junge Mailer mit der Geschichte voll im Sack. In Deutschland ist die Story in einer Essay- und Materialiensammlung namens Reklame für mich selber enthalten. Zu Ostzeiten erschien dieses bei Reclam mit dem Titel:  Die Sprache der Männer.

Worum geht es, siehe auch: Handlung? STOP! Bei zu empfehlenden Büchern oder Filmen vermeide ich sonst tunlichst, all zu sehr auf die Handlung einzugehen. Weil das natürlich die Vorfreude selbst reinzulesen durchaus schmälern kann.  Mir hat schließlich auch noch nie eine junge Dame mitten auf der Straße ihr Feigenblatt gezeigt. Manchmal war das Blatt zu erahnen, die Feige jedoch, die blieb verborgen –  und ich hing am Haken.

So geht das.

Die Umrisse der Story von Mailers Das Grösste auf Erden hingegen kann ich ohne Probleme aus dem Dunkel zerren: Denn manchmal gehts nicht darum worum es geht: weil’s um was anderes geht.
(Sollte jemand anlässlich der letzten Sätze Lust verspüren, mir gegenüber körperlich ausfällig zu werden, das geht vorbei …, wie so vieles was einem wichtig erscheint …)
Der Held der Story ist ein junger Hobo, zu deutsch, ein Landstreicher, namens Al Groot. Meinem Sohn habe ich aus diesem Grund  den gleichen Vornamen gegeben. Was seine Mutter sicher freuen wird, es hier endlich mal zu erfahren. Oder nicht? Werden wir, das heißt ich – sehen. Weiter.

Al Groot ist auf der Durchreise, klar, Hobos sind das die ganze Zeit. Auf der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit nach Chicago hängt er in einem Diner fest. Draußen regnet es Bindfäden. Er hat noch einen einzigen Dollarschein, und 5 Cent. Kaffee und ein Spritzring kosten aber 10 Cent. Also bittet er den Barmann, der auch der Besitzer des Diners ist, um einen halben Spritzring und eine halbe Tasse Kaffee. Der ziert sich erst etwas, mit Verweis auf das fast leere Restaurant, lässt sich aber dann doch erweichen.

Für Al Groot entscheidend: Er will auf keinen Fall seinen letzten Dollarschein anreißen! Denn nur dieser lederne kleine Geldschein, steht noch zwischen ihm und dem Nichts. Kaffee und Kuchen sind in Sekunden vertilgt, sein Hunger hingegen, wirft jetzt richtig den Motor an. In einem unbeobachteten Moment schüttet er sich gierig große Schlucke aus der Ketchupflasche in den Mund, welche auf dem Tisch steht. Einen daneben gegangenen Tropfen fängt er mit der Zunge an der Resopalplatte auf. Besonders bitter ist für ihn die nagende Sehnsucht, wonach er sich in seinen Träumen verzehrt: Nach einem warmen Zimmer, einem guten Essen, Zigaretten und, wie Norman Mailer im Jahre 1940 (!) seinem Al Groot, sicher sehr zur Freude heute lebender Damen in den Mund legt – einer sauberen Frau. Aber wenn Al Groot genau darüber nachdenkt, über allem ihm vorstellbaren Luxus thronend steht das gestochen scharfe Bild wie es wohl wäre, einen nagelneuen 5-Dollarschein in der Hand zu halten. Ihn zu befühlen, zu betasten, seinen frischen Duft aufzusaugen.

Drei Männer betreten das Lokal. Al geht zu ihrem Tisch. Sie checken ihn ab, mit einer Unterstellung: Er wölle sie doch nicht etwa anbetteln? Al erwidert barsch, er hätte Geld.., er suche lediglich eine Mitfahrgelegenheit. Die Männer willigen lächelnd ein. Al Groot hingegen ahnt, was gespielt wird, er kennt die Gesetze der Straße, denn diese, ist seine Welt. Eine ganz klare Sache: Diese Männer sind Gauner, auch wenn er die spezielle Masche der drei Herren noch nicht kennt. Als sie alle zusammen nach kurzer gemeinsamer Fahrt in einem illegalen Billardsaal landen, hat Al keine offenen Fragen mehr, und er wird mit einiger Sicherheit sogar um sein Leben spielen müssen.

Oder, vielleicht um etwas ganz anderes spielen wollen …?
Das erfährt, wer die Story liest.

Was aber ist es, dass mir das Gefühl gibt, mich sowieso, aber auch alle anderen, mit dem Verweis auf diese kleine Story förmlich zu beschenken? Selbst gottverdammte Atheisten haben in diesen Breitengraden manchmal eine penetrant missionarische Ader … früher wie besessen Kassetten zusammengestellt, weil …, na klar wollte ich Claudia Vietze und Romy Warschavsky ins Bett kriegen, aber noch viel mehr war ich der Meinung – wie sollen die Ladys überhaupt weiterleben können, wenn sie diesen Song nicht kennen!

Wie habe ich in eigener Sache auf den Missionseifer anderer Leute reagiert? 2003 war ich Bassist für meinen Freund Chris Whitley.
Wir probten in New York City für eine US-Tour. Jeden Morgen saß ich im Shopsin’s, Ecke Morton Street, Nähe 6th Ave, im Herzen von Greenwich Village.
Im Shopsin’s konnte man trotz Mr. Bloomberg noch rauchen:  Which was the only place in the village …, Handygespräche waren verboten. Der Laden war eine Institution, genau wie sein Besitzer Mr. Kenny Shopsin höchstpersönlich! Vor Jahren hatten Robert De Niro und Al Pacino im Shopsins abgehangen, im Hinterhof war ein kleines OFF-Theater, an welchem die Herren lange vor Hollywood ihre Karrieren begannen.  Auch ein gewisser Mr. Ron Wood zählte zu den Stammgästen, es ist allerdings nicht bekannt, ob der jemals ein Theater von innen gesehen hat …

Was soll das alles? Siehe auch: Ich im Shopsin’s?

Nun, ich musste mich nicht mit einem halben Spritzring zufrieden geben, im Gegenteil: Es gab superfett Eier mit gebratenem Speck, und Kaffee endlos, besinnungslos.
Eines Morgens schlurfte Kenny an meinen Tisch. Schielendes Buchgedeckel: Was ich denn da so manisch läse? Ein amerikanischer Alptraum von James Ellroy …”.

“Heshie, das ist Dreck, davon wirst du in tausend Jahren kein besserer Mensch!”

Er hatte Recht. Ich komme bis heute nicht los davon. Wie von kaum einer Obsession. Mittlerweile mache ich kleine Pausen dazwischen. Dann geht es …
Meistens aber, verharre ich. In dem, was gewohnt ist.
Diese kleine Geschichte von Norman Mailer jedoch, der Dollarschein von Al Groot zwischen ihm und dem Nichts, erinnert mich manchmal – wenn ich diesem jungen Kerl im Diner über die Schulter schaue – an meine eigene Menschlichkeit. Nicht im Sinne eines gewissen weiblichen US-Superstars, welche(r) die abgemagerten Körper der Insassen afrikanischer Flüchtlingslager “so sexy” fand, sondern schlicht und einfach aus meiner Sättigung aufwachend, um für einen kurzen Moment wirklich zu spüren, was eben nicht selbstverständlich ist: Kein Hunger. Ein warmer Platz zum schlafen, für mich, und meinen Sohn. Und natürlich, eine hoffentlich, saubere Frau …

Heiko Hesh Schramm

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